Rezensionen

Cover-Ansicht vom Gedichtband "Von Übergang zu Übergang" von Thomas Bartsch

Von Übergang zu Übergang

Heitere Klarheit – zu Thomas Bartschs Lyrikband „Von Übergang zu Übergang“

Um Individuum und Interpersonales, um Leben, Landschaft und Natur kreisen die Gedichte in Thomas Bartschs neuem Gedichtband „Von Übergang zu Übergang“. Ein Kreisen aus wechselndem Abstand und von unterschiedlichen Ansitzen ist das, doch stets mit feiner sprachlicher Nuancierung und vollendet in der Form. Dieses Kreisen umschreibt weite, gediegene Linien in Versen epigrammatischen Zuschnitts („Lasst uns an einem Strang ziehen!// Riefen sich die Ängste zu// Und legten der Freiheit/ Eine Schlinge um den Hals“), liefert Kostproben delikaten Humors („Will Zuckerguss den Rand mir stopfen“, „Moritat“, „Irr-Läufer“), streift in originellen Touchés Fixsterne wie Eichendorff, Novalis, Hölderlin oder Fried, und bleibt doch stets in stilistischer Konsequenz dem filigranen Ziselierstift verpflichtet. Bartsch verzichtet in allen Gedichten weitgehend auf Satzzeichen, die wenigen Ausrufezeichen, die er setzt, lassen sich über den gesamten 160-Seiten-Band an einer Hand abzählen; das kurze, auf genau verwogene Worte, Verse und Strophen reduzierte Gedicht herrscht vor. Dem entsprechen Kontrolliertheit von Gehalt und Tonfall: Falsche Akklamation oder aufgesetzte Emphase sind diesem Dichter ebenso fremd wie ein Sich-Entäußern im Autobiografischen. Soweit Bartsch die erste Person überhaupt verwendet, fungiert sie zumeist allgemeingültig abstrahiert; das erschwert einerseits die personale Identifizierbarkeit des Lyrikers hinter dem lyrischen Ich, erleichtert anderseits dank seiner Offenheit indes die Identifikationsmöglichkeiten für den Leser. Wobei, um Missverständnisse zu meiden, Kontrolliertheit in unserem Kontext zuvörderst das poetische Verfahren an sich meint, das gewollt und gekonnt inszeniert wird, nicht etwa die „Botschaft“ oder Quintessenz dieses Bandes.

Es ist eine der großen Stärken der Gedichte, dass sie die empathische Wärme, die ihnen innewohnt, dank einer perfekten Balance zwischen Gestaltungsmacht und (selbst-) bewusster Zurückgenommenheit dem Leser nicht marktschreierisch aufdrängen, sondern sie als subtilst dosierbares Versenkungsremedium dar- und anbieten. Im Titel gebenden „Zwischenspiel“ ist alles flüchtig, vom ersten Augenblick bis zum Abgesang („den Riss entlang/ Von Übergang// Zu Übergang“), in “Umdeutung“ (beruhigenderweise!) eben nicht (alles) „was schief ist“ schief, „Sondern Glück/ Im Konjunktiv“, und Tag, so lernt der Leser entzückt, Tag ist erst, wenn „heitere Klarheit/ Ein Spiel dir zeigt// Von windverliebten/ Tanzenden Farben“. Auf dem Tableau aus Klarheit und – zumeist ambiger – Heiterkeit entfalten sich auch die das Interpersonale abhandelnden Poeme prächtig, mögen sie nun das Großenganze unseres Gemeinwesens thematisieren oder den kleinen gemeinen Alltagszwist. „Börsenticker“ etwa resümiert so lapidar wie bitter: „(…) Wer jetzt nicht zählt/ (…) Der wird ausgezählt// Und zählt/ Nicht mehr“, „Babel“ weiß: „Forscherwarnung – ach banal/ Abgefeimtes und Moral/ Bilden Schaum im Sprudelwein/ Rosarot gilt – Spaß muss sein“, und „Easy going“ schwingt sich im Dialog mit „mein(em) Router“ zu dem köstlichen Befund: „Meid die Tiefendimension/ Klick mich ein, da hab ich ´s schon/ Alles easy, keine Not/ Fläche braucht kein Echolot“.

Pure Freude bereiten die sprachlich geschliffenen, von lebensweiser wie gütiger Distanz geprägten Gedichte zu Zwischenmenschlichem und allzu Menschlichem. Das Reimgedicht „Egomanie“ verhandelt im Parlandoton das Drama einer, nennen wir es:  asymmetrischer Kriegsführung nicht unähnlichen Beziehung mit so leichter Hand, dass es fast wehtut: „Ich leide unter deinem Leid/ (…)// Ade, mein Weib, bin jetzt gefeit/ Der Traum von unserer Zweisamkeit/ Ist Abgesang, Vergangenheit/ Das Leid mit dir – ich bin es leid!“. Mit seiner meisterlichen „Romanze“ schließlich bringt Bartsch das verkorkste Verhältnis zweier Menschen, die sich ineinander und aneinander vorbei ver–sehen hatten – anderwo Stoff für einen Roman oder gar einen epischen Kinofilm –, auf den Punkt von sechs mal zwei fünfsilbigen Zeilen: „Sie schenkte Rosen/ Er liebte das Moos// Sie tanzte auf Wiesen/ Er träumte im Wald//  Sie lachte im Sommer/ Er rang mit dem Sturm// Sie suchte den Süden/ Er hüllte sich ein// Sie rannte davon/ Er dachte nach// Sie strich seinen Namen/ Er schrieb ein Gedicht“. Großartig.

Reinhard Rakow, 2021†

Der neue Gedichtband von Thomas Bartsch trägt den Titel „Von Übergang zu Übergang“.

In mehr als 130 Gedichten geht der Autor darin der wichtigen Frage nach, was uns Menschen in unserem Menschsein ausmacht. Die Sehnsucht nach Einfachheit und tragenden Werten wird spürbar angesichts einer Welt, die in Konsum und schnellem Genuss versinkt, in der Selbstbezogenheit und fehlende Beziehungsfähigkeit herrschen.

Seine Verse hinterfragen unsere Vorstellungen vom Menschsein und möchten in der Leserin und dem Leser die Fähigkeit entwicklen, nicht nur hinter die Fassaden zu sehen, sondern sie bewusst zu durchdringen. Die Gedichte sind formenstreng und sehr verdichtet. Mitunter zeigt sich das Aufblitzen interessanter Wortakrobatik, dann kommen die Verse wieder leise daher. Kurz und auf den Punkt gebracht sind es Impulse innezuhalten, sich zu besinnen, sich auf den Weg zu machen. Sie veranlassen zum Nachdenken und Nachempfinden, zum Sich-Finden und Neujustieren. Sie umkreisen die seit jeher wesentlichen Themen der Lyrik: die Natur und die Liebe, Begegnungen und die Besinnung auf das Eigentliche; auch der Alltag und das Einfache kommen zur Sprache. Es sind leise Töne, behutsame Bilder, zerbrechliche Verse. Sie laden ein, Lyrik als Weg der Selbst- und Weltreflexion zu verstehen.

Dr. Holger Küls, 2021

Ein Walsroder Lyriker dichtet auf 164 Seiten zwischen Natur- und Sozialereignis seine Zeilen. Gedrängte Sprache, meist mit Tempo. Wortverliebt, straff und rhythmisch getrieben. Einmal geht es um Naturgewalten. Dann wieder um unser Verhältnis zur Natur. Unser Verhältnis zur Zeit. Das Getriebensein in einer Welt ohne Ruhe. Dazwischen purzelbaumfröhliche  Liebeszeilen. Im Wechsel mit traumdüsteren Reimen. Bartsch arbeitet meist straff in der Form und extrem sprachreduziert. Chiffreartig liefert er Assoziationsangebote. Nichts zum Weglesen. Gedichte eben, aber aus der Region. Von einem, der tagsüber professionell die Seelen anderer betreut und abends Grenzen auslotet. Wobei die Form der sichere Rahmen ist, um dem Grenzgang einen vernünftigen Pfad aufzuweisen. Meist geht es zur Sache.

Wilde Gedankensplitter in ruhige Form gegossen. Sprache, die an sich selber zerrt. Und dabei wiederholt ein warnender Ton, den Rahmen nicht zu verlieren. Ungewohnt akzentuierte Lektüre. Schlichte Aufmachung. Übersichtlicher Satz. Drängende Gedanken in klarer Form.

„Torfkurier“, Ausgabe 09/2021, Götz Paschen

Cover-Ansicht vom Gedichtband "Gezeiten" von Thomas Bartsch

Gezeiten

Peter Missler rezensiert den neuen Gedichtband „Gezeiten“ von Thomas Bartsch

Wieder einmal ein merkwürdiger Zufall: In einer Zeit elementarer Verunsicherung, Krisen und Notstände in nahezu allen Lebensbereichen – als befänden sich sämtliche Fehlentwicklungen der menschlichen Zivilisation in einer finalen Eskalationsphase – erscheint, von einer größeren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, im Geest-Verlag / Vechta der Gedichtband „Gezeiten“ des Lyrikers und Psychotherapeuten Thomas Bartsch.

Während im Außen die bisher scheinbar verlässlichen Strukturen zu erodieren drohen, weist schon der Titel des Lyrikbandes darauf hin, dass es hier um Konstanten unseres Seins geht, die dem ständig überlasteten und metaphysisch weitgehend entwurzelten Zeitgenossen mehr oder weniger entgehen. Thomas Bartschs Gedichte sind eine starke Ermutigung, aus der Rastlosigkeit des Alltags und der angstmachenden Informationsflut auszusteigen, innezuhalten und aus der erst auf diese Weise möglich werdenden stillen Betrachtung den Reichtum der eigenen inneren Räume zu erfahren. Wie es Astrid Lindgren augenzwinkernd auf den Punkt bringt: „ … und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach nur dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“ („Astrid Lindgren – Ein Lebensbild“ von Margareta Strömstedt)

Sprachlich nuanciert und facettenreich schafft Bartsch eine Brücke zwischen seinem Anliegen als Lyriker und den Erkenntnisebenen der Mystiker aller spirituellen Traditionen:

Die Weite der inneren Räume ist untrennbar verbunden mit dem „einen Großen Geist“, der alles Sein enthält und entwickelt in immerwährenden dynamischen „Gezeiten“. Inhaltlich gelingt ihm diese Annäherung differenziert, niemals belehrend, immer den offenen Raum des mit dem linearen Verstand nicht Greifbaren anbietend „ … In einen zeitlos / Schwebenden / Neubeginn“.

Einige seiner Texte würzt der Autor mit einer gehörigen Portion Sarkasmus, der dann wieder für das rechte Maß an Erdung sorgt.

Dass der Geist der 68er nicht an ihm vorbeigegangen ist, zeigt Bartsch in seinen gesellschafts- und kapitalismuskritischen Texten. Während globale Großkonzerne an der volldigitalisierten Nachvollziehbarkeit in allen Bereichen des menschlichen Lebens arbeiten, entsteht der Eindruck, Kritik-, Denk- und Diskursfähigkeit sind bei der „Generation QR-Code“ weitgehend verstummt. Auch vor diesem Hintergrund, ganz im Geiste eines Peter Rühmkorf, scheint Thomas Bartsch den scharfsinnigen und kritischen Verstand in die aktuelle Zeit hinüberretten zu wollen.

Und während die Realisierung des Transhumanismus und die Vision des „Homo Deus“ nahezu unbemerkt, aber äußerst zielgerichtet voranschreiten („ … Computerstimmen / Verkünden jedoch / Das Glaubensbekenntnis / Ihrer Mission“), ist die Lyrik Thomas Bartschs ein subtiles, aber sehr eindringliches Plädoyer für die Menschlichkeit – mit ihren Selbstzweifeln, ihrem Scheitern und ihrer Zerbrechlichkeit ebenso wie mit ihrer Liebesfähigkeit und der Freiheit des Geistes („ … Doch schließlich /Gibt sich dein / Gefangenes Herz / Der Wahrheit preis / Und lernt / Vom Schwindel befreit / Zu fliegen“).

Peter Missler, Juli 2022, Celle

Cover-Ansicht vom Gedichtband "Eben nur dort" von Thomas Bartsch

Eben nur dort

„Eben nur dort“ ist der Gedichtband überschrieben, in dem Thomas Bartsch 70 poetische Abhandlungen – mal kurz, mal lang und temporär auch kontrastiv im Inhalt – veröffentlicht hat. Ein Werk, das eigenes Erleben und Emotionen verbal zum Tragen bringt und in seiner Wirkung eine Sammlung von Denkanstößen ist. Indem der Autor seine Eindrücke literarisch mitteilt, bezieht er Leserinnen und Leser ein in seinen individuellen, intellektuellen und emotionalen Kosmos. Eine Welt, in der sich –  zumindest partiell – die Leserschaft wiederfinden kann. Der Spannungsbogen entsteht und wird gehalten durch die  klare Struktur der Texte sowie die  Prägnanz und Präzision der Wortwahl. Eine Reihe dieser Gedichte erschließt sich nicht unmittelbar oder gar von selbst. Nachdenken ist gefragt,  permanente Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auf die Zwischentöne, die sich in der Wahl der einzelnen Wortgruppen finden. Dabei reicht das Spektrum der Themata von Heiterkeit bis Melancholie,  von Schwermut bis Aufbruch. In einigen Gedichten findet der Leser Kurioses bis nahezu Satirisches. Genannt sei hier der gehetzte Fahrer, der aufgrund von Navi-Angaben einen Zaun durchbricht, auf der Kuhweide landet – und das Navi sagt zum Abschluss: „Willkommen zu Hause“.

Thomas Bartsch bedient sich in seinen Texten immerwährend des Stilmittels einer Schluss-Sequenz.  Jene ist aber kein Fazit im Sinne von „so und nicht anders“, ist keine leicht nachvollziehbare Folgerung aus dem Gedicht-Inhalt.  Vielmehr ist der verbale Schlussstrich der Anstoß, den Weg der intellektuellen und gefühlsmäßigen Auseinandersetzung mit dem gelesenen Text zu beschreiten. „Eben nur dort“ ist alles andere als eine seichte (Bett-)Lektüre; die Gedichte schärfen Sichtweisen, auf persönliche, aber auch auf aktuelle gesellschaftliche Strömungen und Tendenzen, ohne im mindesten belehrend zu wirken. Diesen Gedankengängen kann sich niemand entziehen in einer Zeit, in der viele meinen, in Google stets eine Antwort zu finden. Letztendlich muss der Mensch seine eigenen Entscheidungen treffen. Wie die aussehen könnten, darauf geben die Gedichte von Thomas Bartsch mal mehr, mal weniger zarte Hinweise. Wobei sich der Lyriker auf den 90 Seiten als ein wacher Geist mit Empathie erweist.

Andreas Stolz, Autor Cellesche Zeitung und Gifhorner Rundschau

Cover-Ansicht von "Sisyphos oder Die Kunst der Wende" von Thomas Bartsch

Sisyphos oder Die Kunst der Wende

Thomas Bartsch, „Sisyphos  oder  Die Kunst der Wende“  (Geest-Verlag 2023)

Wenn im universitären Kontext –  wo der Rezensent sonst zu Hause ist –  vorgetragen wird, ist es guter akademischer Codex, zuerst eigene Interessenkonflikte offenzulegen. Tatsächlich sind hier solche zu benennen: Am ersten Tag des Medizinstudiums in Hannover saßen Thomas Bartsch und ich in der Begrüßungsvorlesung nebeneinander und sind seither befreundet. Bereits damals wurde deutlich, was für den vorliegenden Essay hohe Relevanz hat: Thomas Bartsch hat sich schon früh intensiv mit geisteswissenschaftlich-philosophischen Fragestellungen beschäftigt, die auch dazu beigetragen haben, dass er seinen professionellen Weg über eine Facharztausbildung für Psychotherapeutische Medizin in die langjährige Tätigkeit als niedergelassener tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut wählte. Noch ein weiterer wichtiger Baustein ist zu benennen, der die literarische Gestalt seines ersten Essays „Sisyphos oder Die Kunst der Wende“ nachhaltig prägt: Eigentlich ist Thomas Bartsch Lyriker. Zuvor sind zwei Gedichtbände im Geest-Verlag erschienen: „Von Übergang zu Übergang“ (2021) und „Gezeiten“ (2022). Seine Wortgestalten und Sprachbilder modellieren präzise und mit melodischer Ästhetik, was gesagt werden soll. Warum ist diese hohe Sprachkunst so relevant für das  vorliegende Werk? Der philosphisch-psychoanalytische Essay ist intellektuell keine „einfache Kost“: Um die innovative Interpretation der Sisyphos-Metapher von Thomas Bartsch  nachvollziehen zu können, d.h. zu verstehen, worin in der scheinbar erbarmungslosen Ausweglosigkeit des in den Hades verbannten Königs von Korinth die Chance und Kunst einer Wende bestehen, muss der Leser sich konzentriert auf die Lektüre einlassen. Das liest sich nicht nebenbei. Hier hilft die Sprachkunst, den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite zu halten: wenn beispielsweise einzelne Worte kunstfertig unter dem literarischen Mikroskop seziert werden, um dann mit Erkenntnisgewinn leicht modifiziert neu belebt zu werden.

Nun wird der eine oder die andere schon ungeduldig fragen, wann kommt der Rezensent endlich zum Stein des Anstoßes – um im Mythos zu bleiben. In der Interpretation des Sisyphos-Mythos geht es Thomas Bartsch um die Darstellung und Analyse einer Krise der Selbst- und Selbstwert-Entwicklung, und zwar nicht nur im individuellen, sondern auch im aktuellen gesellschaftlichen Kontext. Thomas Bartsch stellt seine Deutung, die maßgeblich von der Selbstpsychologie und tiefenpsychologisch orientierten Narzissmus-Konzepten abgeleitet ist, der Philosophie des Absurden von Albert Camus entgegen, die dieser 1942 in seinem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ / „Ein Versuch über das Absurde“ vorgelegt hatte.  Thomas Bartsch identifiziert in der Camus’schen  Interpretation des Sisyphos-Mythos ein destruktives Schein-Selbst, individuell wie auch gesellschaftlich, das im Versuch von frustraner Selbstoptimierung die Außenwelt um den Preis von Realitätsverlust so umdeutet, dass das Unerreichbare erreichbar erscheint. Dafür müssen allerdings unablässig kognitive Strategien wie Verleugnung oder Verdrängung eingesetzt werden, die viel psychische Kraft absorbieren, um die schmerzhafte Konfrontation mit der Realität dauerhaft wegzusperren. Langfristig resultiert häufig ein Zustand, der verschiedentlich als „Burn-out“ bezeichnet wird und unter Experten unter dem – medial weniger wirkungsvollen – Begriff „Anpassungsstörung“ bekannt ist.  Während Albert Camus Sisyphos als einen Rebellen interpretiert, der sich trotzig und unermüdlich in seinem Menschsein gegen das sinnentleerte Universum  und die Absurdität des Seins stellt, zeigt Thomas Bartsch einen alternativen Lösungsweg auf. Wird dieser Weg beschritten, kann die „Kunst der Wende“, die eine innere Wende ist, gelingen, obwohl der mühsam aufwärts gestemmte Felsbrocken immer wieder den Berg hinunterrollt.  Und was rät nun T. Bartsch seinem Sisyphos ? Hier darf der Rezensent nicht zu viel verraten; der Essay soll gelesen werden, die eigene Kopfarbeit kann und soll nicht erspart bleiben. Thomas Bartsch führt dabei didaktisch gekonnt in tiefenpsychologische und philosophische Konzepte ein, im letzteren Kontext besonders mit Bezug auf Albert Camus und  Søren Kierkegaard. Er verknüpft diese Konzepte mit seinem Erfahrungsschatz aus einer jahrzehntelangen psychotherapeutischen Arbeit. Nur zwei Dinge seien verraten: Auch ein Felsbrocken kann allmählich durch die Reibung zur Kugel geformt werden,  der Rollwiderstand gegen die Realität reduziert werden. Und wer schreibt Sisyphos eigentlich vor, wie schnell er jeweils zur widerspenstigen Felskugel hinabsteigt. Vielleicht nutzt er den Weg in das Tal zur kritischen Selbstreflexion mit jeweils neuem Erkenntnisgewinn?  Albert Camus schließt mit der rebellischen Aussage: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ * Thomas Bartsch würde wohl eher sagen: „Im selbstreflexiven Weg hinab in das Tal liegt die Chance für die innere Wende. Wenn die Kunst der Wende gelingt, kann Sisyphos ein glücklicher Mensch werden.“

Prof. Dr. med. Jens Wiltfang, Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen

*Albert Camus, „Der Mythos von Sisyphos“, Rowohlt-Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg 1997, S. 128

Buchbesprechung

Thomas Bartsch
Sisyphos oder Die Kunst der Wende

Thomas Bartsch, Walsroder Lyriker und ärztlicher Psychotherapeut, nähert sich in seinem Essay in einer dichterisch abstrahierenden Sprache der mythologischen Gestalt des Sisyphos. Er nimmt zum Teil Bezug auf das philosophische Werk „Der Mythos von Sisyphos“ von Albert Camus, um dessen Absurditätsphilosophie mit einer grundsätzlich dem Leben zugewandten und sinnorientierten Einstellung diametral zu widersprechen. Dabei geht es Bartsch vor allem um die Möglichkeit, auch in schwierigen und ausweglos erscheinenden Situationen aus der Besinnung auf tragende Werte Kraft, Hoffnung und Mut zu schöpfen.

Der Autor spielt – und das macht den reizvollen inhaltlichen und ästhetischen  Anspruch der Lektüre aus – souverän auf den verschiedenen Sprachklaviaturen der Medizin, Psychoanalyse, Selbstpsychologie und der Philosophie. Im Sinne eines inneren Monologs verbindet er die verschiedenen Melodien zu einem spannungsvollen Konzert.

Sisyphos ist für Bartsch in Umkehrung des Camus’schen Ansatzes nicht der Verfechter einer narzisstischen Negation, sondern ein Mensch, „der in einer Krise die Irrtümer seines Schein-Selbst überwinden lernt und durch Erfahrungsauswertung und Selbstreflexion zu seinem wahren Selbst findet“ (aus dem Kapitel „SISYPHOS – EIN ABSURDER REBELL?“).

In seinen tiefenpsychologischen und philosophischen Ausführungen spannt Thomas Bartsch einen Bogen von Ellis über Heinz Kohut, C. G. Jung und Viktor Frankl bis hin zu Heidegger, Kierkegaard und zur Reflexion über Glaubensthemen.

Bartsch gibt der Leserin und dem Leser keine leichte und alltägliche, dafür aber eine umso anregendere Lektüre, die in ihrer Vielschichtigkeit auch für die Bildungs- und Beratungsarbeit einen bereichernden Beitrag leisten kann.

Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser!

Karl-Heinz Meilwes, November 2023, Minden

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